Hinrich Lohse – eine wissenschaftliche Biografie des schleswig-holsteinischen NSDAP-Gauleiters und Oberpräsidenten

Der einzelbiografische Zugriff auf die Vor-, Herrschafts- und Nachgeschichte des Nationalsozialismus in Schleswig-Holstein wie er mit dem vorliegenden Projekt vorgenommen wird, reiht sich ein in jüngere Forschungstendenzen, die den Gegensatz zwischen struktur- und personengeschichtlichen Ansätzen aufheben. Das Projekt verfolgt einen vermittelnd-integrierenden Ansatz, will beides im Auge behalten: das Austarieren der Rolle des einzelnen in den Strukturen, Werteordnungen und Gruppen sowie die Verortung zwischen individuellen Spezifika und gruppentypischen Charakteristika.

Im Fall des Hinrich Lohse gilt das beispielsweise für die NS-Herrschaftsstrukturen und NS-Herrschaftsjahre in Schleswig-Holstein, die ein Desiderat der Regionalgeschichtsforschung darstellen, und für Teilaspekte der Geschichte des Reichskommissariats Ostland. Entsprechend aufwendig und breit sind die entsprechenden Abschnitte anzulegen.

Etwas stärker als die einschlägigen biografischen Referenzstudien ist geplant, auch die Psyche, das individuelle Muster des Protagonisten ins Visier zu nehmen, damit auch Brüche und erklärungsbedürftige Anteile. Die Ursache liegt im Protagonisten selbst: Während der intellektuelle, rational-radikale Best in Ulrich Herberts Studie in einem klaren Interpretationsmuster dargestellt wird – allenfalls seine jämmerlichen Zusammenbrüche im Gefängnis geben doch zu denken und liefern neue Fragen – , erscheint Lohses Lebensweg und Verhalten nicht derart stringent: Am Thema Holocaust ist seine Bruchlinie, muss Widersprüchliches erklärt und integriert werden.

Im Gegensatz zu Angehörigen der intellektuellen, sich als Gruppe radikalisierenden SS- und SD-Elite, auch im Unterschied zu den tradierten Funktionseliten in Wehrmacht und Verwaltung war der relativ alte Hinrich Lohse ein kämpferischer, vor Ort und öffentlich wirkender Vertreter der Massenpartei NSDAP, ein – wie er sich zeitlebens verstand: Politiker, ein ‚Alter Kämpfer‘. Er war Mitschöpfer und Produkt der ‚Bewegung‘, in seinem Gau fraglos auch die erste Adresse. Er zählte nie zur eigentlichen NSDAP-Führung, etablierte sich allerdings mit anhaltendem Erfolg in deren zweiter Reihe, unterscheidet sich also vom Profil der Bankrotteure, Raufbolde und Deklassierten, das Herbert als bestimmend für den Typus NS-Funktionsträger erachtet, und von denen es in der Tat ja einige auch in den Reihen der vor langem von Hüttenberger als Gruppe vorgestellten Gauleiter gab. Nein, obwohl auch seine Biografie Eskapaden wie Raufereien, unkontrollierte Trunkenheiten und individuelle Gewaltmaßnahmen aufweist, ist Lohse generell als ein biederer, fleißiger Kleinbürger zu charakterisieren, der es vom Sohn eines kleinen holsteinischen Landwirts zum Bankkaufmann, NSDAP-Spitzenfunktionär und keineswegs völlig erfolglosen preußischen Oberpräsidenten bringt.

Konturen gewinnt das Bild eines Gaufürsten, der im Rahmen seiner Möglichkeiten nach uneingeschränkter, absoluter Machtvollkommenheit strebt, die nach Gutdünken und persönlichen Vorlieben eingesetzt wird, der aber andererseits über ein Gespür dafür verfügt, dass Delegation an professionelle Bürokratien in der Provinz und die Akzeptanz von vergleichsweise autonomen Zonen wie jener der Landesuniversität nur zur Steigerung der eigenen Macht beitragen. Sich selbst aber für einen Landwirtschaftsexperten haltend, besetzte er dieses Feld persönlich, und zwar nicht immer erfolgreich. Küstenschutz und Landgewinnung an der Westküste als ureigenen schleswig-holsteinischen Beitrag zur Schollenfindung erkennend, veranlasste er den 1934 beginnenden und vielfach gefeierten einschlägigen 10-Jahresplan und befasste sich wiederholt persönlich mit den Techniken der Landgewinnung.

Es sei eine triviale Erkenntnis in Erinnerung gerufen: Auch einfach strukturierte Menschen können eine historisch relevante Biografie aufweisen. Bei Hinrich Lohse handelt es sich um einen Akteur, der seinen Weg ging, der Entscheidungen traf und Verhalten verantwortete: Vom rechtsextrem-völkischen Spektrum angezogen, baute er die regionale NSDAP maßgeblich mit auf, übte etwa durch die Personalunion Gauleiter und Oberpräsident kumulierte und nicht unerhebliche Herrschaftsfunktionen im NS-Deutschland aus, behauptete sich also im System, was ihm eingeschränkt übrigens selbst in der Nachkriegszeit gelingen würde.

Es stellen sich unmittelbar anschließend folgende Fragen:

  • Wie gelang der Aufstieg in derart zentrale Positionen?
  • Wie lässt sich Lohses Verhältnis zu tradierten Eliten charakterisieren?
  • Wodurch gelingt es ihm, sich in ihn partiell überfordernden Rollen zu behaupten?
  • Wie viel Macht und damit Handlungsspielräume besaß er de facto?

Eine Kernthese lautet: Lohse repräsentiert den Typus des kleinbürgerlichen Aufsteigers, der den tradierten gesellschaftlichen und Herrschafts-Eliten seine im eigentlichen Sinne des Wortes erkämpfte – und eher vermeintliche – Zugehörigkeit immer wieder neu beweisen muss. Das gilt für seine Kampfjahre, es gilt für das Stichjahr 1933, für die Inthronisierung und die Dauerkämpfe im Reichskommissariat, das gilt selbst noch für die Eigenwahrnehmung in der Nachkriegszeit. Dieser Schlüsselbegriff des gesellschaftlichen Aufstiegs liefert den analytischen Zugang!

Kernstück der Biografie wird ein ausgiebiger Exkurs über die Zivilverwaltung im Reichskommissariat Ostland und speziell ihre Rolle im Holocaust vorgesehen. Skizzenhaft sei hier angedeutet: Es geht um ein Spannungsverhältnis zwischen tatsächlicher, verantwortlicher Rolle im Holocaust und fröhlich-patriarchaler Herrschaftsausübung der Zivilverwaltung in Riga zwischen 1941 und 1944. Im Projekt wird der Frage nach Funktion und Bandbreite der realen Mitwirkung der deutschen Zivilverwaltung am Judenmord in der Region nachgegangen und die spätere Legendenbildung und Nachgeschichte beleuchtet. Für die Akteure der Zivilverwaltung spielte die unmittelbare öffentliche Erfahrung und Beteiligung an der mörderischen Gewalt eine erhebliche Rolle: Denn das Reichskommissariat Ostland bildete eine Kernregion des Holocaust, und Riga stellte als Sitz der Zentrale der Zivilverwaltung und als Sitz des Höheren SS- und Polizeiführers neben den unmittelbar in und bei der Stadt durchgeführten Mordaktionen auch eine Subzentrale der Organisation und Verwaltung des Völkermordens dar: Es geht folglich um eine besondere Nähe.

Auf der komfortablen Basis des aktuellen, insbesondere in den letzten Jahren wachsenden Forschungsstandes wird es möglich, mit erweitertem Wissen und teilweise neuen Fragestellungen die Rolle des Reichskommissars auszuloten. Insbesondere soll dabei eine Funktion einer Lohse-Biografie sein, das Teilgeschehen des Holocaust im Ostland so dicht als irgend möglich beschrieben auf eine prominent mitwirkende Person zu fokussieren. Und zwar in beiden Richtungen: es geht um die Perspektive und die (Fehl-)Wahrnehmungen des einzelnen, und zugleich um dessen Rolle und Rollenmöglichkeiten!

Veröffentlichungen des Projektleiters zur Biografie Lohses

  • Die ,Zivilverwaltung' des Reichskommissariats Ostland und der Holocaust: Wahrnehmung, Rolle und ,Verarbeitung', in: Collaboration and Resistance During the Holocaust. Belarus, Estonia, Latvia, Lithuania, edt. by David Gaunt, Paul A. Levine, Laura Palosuo, Bern 2004, S. 45-76.
  • Hinrich Lohses Riga: Die Zentrale der ,Zivilverwaltung des Reichskommissariats Ostland' und der Holocaust - eine besondere Nähe, in: Riga im Prozeß der Modernisierung, hrsg. von Eduard Mühle, Nobert Angermann, Marburg 2004, S. 265-287.
  • Der schleswig-holsteinische NSDAP-Gauleiter Hinrich Lohse: Überlegungen zu seiner Biografie, in: Regionen im Nationalsozialismus, hrsg. von Michael Ruck und Karl Heinrich Pohl (Hrsg.): Nationalsozialismus in der Region, Bielefeld 2003, S. 91-120.
  • Hinrich Lohse 1896-1964. NSDAP-Gauleiter, Oberpräsident, Reichskommissar, Rentner, in: Steinburger Jahrbuch 2000, S. 280-291.
  • Haft nach Beerdigung. Skurrile NS-Gewalt in der Provinz. In: Demokratische Geschichte 11 (1998), S. 161-175.
  • Der gescheiterte Versuch, die Legende der „sauberen“ Zivilverwaltung zu entzaubern. Staatsanwaltschaftliche Komplexermittlungen zum Holocaust im Reichskommissariat Ostland bis 1971. In: Robert Bohn (Hrsg.): Die deutsche Herrschaft in den „germanischen“ Ländern 1940-1945. Stuttgart 1997, S. 159-185.
  • Frühheimkehrer. Schleswig-holsteinische Verwaltungskräfte kehren aus dem „Reichskommissariat Ostland“ zurück. In: Ende und Anfang im Mai 1945. Das Journal einer Wanderausstellung des Landes Schleswig-Holstein. Hrsgg. von der Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Schleswig-Holstein, Kiel 1995, S. 213-217.
  • Hinrich Lohse: *1896 Mühlenbarbek, +1964 Mühlenbarbek. NSDAP-Gauleiter, Oberpräsident, Reichskommissar, Rentner. In: Ende und Anfang im Mai 1945, S. 91-96.
  • Oberpräsident und NSDAP-Gauleitung in Personalunion: Hinrich Lohse. In: Nationalsozialistische Herrschaftsorganisation in Schleswig-Holstein. Gegenwartsfragen 79. Hrsgg. von der Landeszentrale für politische Bildung. Kiel 1996, S. 23-44.
  • „Wir subventionieren die Mörder der Demokratie“. Das Tauziehen um die Altersversorgung von Gauleiter und Oberpräsident Hinrich Lohse in den Jahren 1951 bis 1958. In: ZSHG 120 (1995), 173-199.